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    Die andere Seite der Freiheit

    Von Annette Kurschus, Präses der Evangelischen Kirche von Westfalen

    © iStock / deberrar

    Der Titel eines Ohrwurms aus dem Jahr 1973 geht mir unwillkürlich durch den Kopf: „Immer wieder sonntags!“ Ich muss an ihn nicht etwa aus Nostalgie denken, sondern angesichts der fortgesetzten Versuche, die Zeiten des Kaufens und Verkaufens zunehmend auf den Sonntag auszuweiten. In dem erfolgreichen Evergreen von Cindy und Bert kommt sonntags regelmäßig die Erinnerung an unbeschwerte Gefühle von romantischer Zweisamkeit in lauen Sommernächten zurück.

    Wenn es heute um den Sonntag geht, kommt zunächst ganz anderes ins Spiel: Geschäftigkeit im buchstäblichen Sinne des Wortes. Immer mehr verkaufsoffene Sonntage soll es geben. Auch sonntags „shoppen“ gehen: Dafür werden – wie vor kurzem in Nordrhein-Westfalen – allerlei vermeintlich harte Fakten ins Feld geführt. Zum Beispiel diese: Das Freizeitverhalten der Menschen habe sich geändert; im Internet könne man rund um die Uhr einkaufen, und das mache den Einzelhändlern das Leben ohnehin schon schwer genug; die Innenstädte verödeten allmählich wegen mangelnder Attraktivität.

    Und überhaupt: Warum lasse man den Leuten nicht die Freiheit, selbst zu entscheiden, ob und wann sie einkaufen oder ausruhen wollen, statt alle in dasselbe Zeitkorsett zu zwängen? Mit „Freiheit“ und „Zwang“ sind tatsächlich die entscheidenden Stichworte benannt. Allerdings meint „Freiheit“ in diesem Bündel von Argumenten ausschließlich die Freiheit des Verkaufens und Konsumierens. Beides muss man sich leisten können, sonst werden die Fakten wirklich hart. Die Freiheit derer, die sonntags an der Kasse sitzen müssen, dürfte durch mehr verkaufsoffene Sonntage kaum größer werden. Im Einzelhandel arbeiten zu rund 70 Prozent Frauen, etwa die Hälfte davon in Teilzeit und nicht selten alleinerziehend. Es vergrößert sich wohl auch nicht die Freiheit der Geschäftsleute, die es sich nicht leisten können, sonntags zu öffnen – und deshalb fürchten müssen, vom Markt verdrängt zu werden.

    Ist die „Befreiung des Wirtschaftens“ nicht selbst ein Zwang, der am Ende doch nur ganz wenigen nützt?

    Nach Cindy und Bert fällt mir Thomas Mann ein. Der hanseatische Kaufmannssohn und Schriftsteller hatte sich in strenger Selbstdisziplin einen eng getakteten Arbeitsplan verordnet, an den er sich geradezu zwanghaft hielt. Was er über den Sonntag schreibt, klingt aber anders. Es hat mit der Freiheit des Menschen zu tun – und mit der Gleichheit aller Menschen vor Gott.

    In seiner Novelle „Das Gesetz“ lässt er Gott zu Mose und dem Volk Israel sagen: „Mein Tag soll der Tag deiner Freiheit sein, die sollst du feiern. Sechs Tage sollst du ein Ackerer oder ein Pflugmacher oder ein Topfdreher oder ein Kupferschmied oder ein Schreiner sein, aber an meinem Tag sollst du ... gar nichts sein, außer ein Mensch und deine Augen aufschlagen zum Unsichtbaren.“

    Und kurz darauf zeigt sich, wie eng Gleichheit und Ruhe, Freiheit und Freizeit zusammengehören: „Mache überhaupt nicht einen so dummdreisten Unterschied zwischen dir und den anderen, dass du denkst, du allein bist wirklich, ... der andere aber ist nur Schein. Ihr habt das Leben gemeinsam, und es ist nur Zufall, dass du nicht er bist.“

    Im Alltag sind wir Menschen verschieden und müssen es sein. Wir sind geprägt durch das, was wir leisten und tun, was wir sehen und vorzeigen, was wir herstellen und erwirtschaften können. Das kostet Kraft und Zeit. Sechs Tage Zeit. Aber wir sind mehr als das, Gott sei Dank. Um dies zu spüren und zu erleben, brauchen wir ebenfalls Zeit, gemeinsame und frei gestaltete, geschenkte und menschliche Zeit. Immer wieder sonntags.

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    Über Annette Kurschus

    Annette Kurschus ist Präses der Evangelischen Kirche von Westfalen, stellvertretende Ratsvorsitzende
    der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und Herausgeberin von chrismon.

    Wir danken chrismon für die Veröffentlichung dieses Artikels

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